
Als ich jung war, fragte ich mich immer, wie so etwas Wahnsinniges wie das 3. Reich überhaupt passieren konnte. In mir setzte sich kein Bild zusammen, wie sich ein Alltag derart ändern konnte, dass das alles in Leichenberge und Konzentrationslager ausarten konnte und irgendwie alle okay damit waren. Mittlerweile habe ich da so eine Ahnung.
Mein Abitur habe ich in Frankfurt auf dem Lessing-Gymnasium gemacht. Diese Schule hat eine lange Tradition in der Bekämpfung von Faschismus, Rassismus und insbesondere Antisemitismus.
Drei ehemalige Abiturienten meiner Schule hatte Anteil am Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944: Stülpnagel, von Hofacker und Klausing. Die Knobloch-Enkelinnen
gingen auf meine Schule, genau wie der Nachwuchs vieler anderer angesehener jüdischer Familien. Schon von klein auf setzten wir uns mit Themen wie Rassismus und Diskriminierung auseinander. Im
Deutschunterricht lasen meine Freunde an anderen Schulen Coming-of-Age-Bücher und, als wir alle jünger waren, Bücher zum Thema Freundschaft. Das taten wir auch alles – aber immer im Setting
des 3. Reichs oder anderer Epochen, die einen rassistischen Background hatten. Wir lasen Der gelbe Vogel, Jakob der Lügner, im Englisch-Unterricht Toni Morrisson. Wir
sahen uns Das Leben ist schön an. Manchmal wünschten wir uns tatsächlich, einfach mal ein anderes Thema zu behandeln – aber letztendlich hat es uns doch sehr interessiert, und vor allem:
schockiert.
Das Dritte Reich und die Frage nach dem 'Wieso'
Unser Geschichtslehrer Herr K. sah mit uns die Filmaufnahmen der Befreiung von Auschwitz an. Die Teilnahme war freiwillig – alle waren da. Fassungslos starrten wir die Leichenberge und lebenden Skelette an, die aus den Baracken wankten. Wir hielten uns die Augen zu, saßen mit angezogenen Beinen auf den Stühlen, weinten. Unser Geschichtslehrer fing uns sehr sensibel und empathisch auf, erklärte viel, zeigte aber auch, dass er genauso fassungslos war. Menschlich.
Was meine gesamte Schullaufbahn und auch diesen Moment gezeichnet hat, war eine ganz bestimmte Frage. Ein Umstand, den ich damals weder verstehen, noch einzuordnen vermochte. Ein ganz kleines Wort, das immer im Hinterkopf saß und rumpelte:
Wie?
Wie konnte das nur passieren? Wie konnte so etwas ANFANGEN? Es ging einfach nicht in meinen Kopf rein, wie ein Rassismus von so einer Dimension ein ganzes Volk einnehmen und verdrehen kann. Wie Leute sagen konnten, sie hätten von all dem nichts gewusst. Wie alle meinten, sie hätten doch gar nicht mitgemacht. Das alles nicht gewollt. Hätten Hitler nie gemocht. Wo waren die alle währenddessen, bitte sehr?

Und dann natürlich die ganzen Verbrechen. Wie können Millionen Menschen zu so etwas fähig sein. Zu solchen Grausamkeiten und absolut verabscheuungswürdigen Taten. Wie konnten sie sich alle so verführen lassen, beziehungsweise:
Wieso waren alle so empfänglich dafür?
Diese Leichenberge. Diese Gewalt. Dieser blinde Hass. Und nicht nur irgendwelcher radikaler Verrückter, nein – "normale" Leute, Eltern, Kinder, Omis, Opis.
Kindergeburtstag und Juden jagen. Alles zeitgleich, in derselben Straße. Total normal.
Dann die Geschichte der Sklaverei und des Rassismus gegen dunkelhäutige Menschen in den USA. Wir lasen The Bluest Eye von Toni Morrisson. Meine Mutter wurde 1960 geboren. Für mich als Kind war das also kein dunkles Mittelalter, sondern ein greifbarer und einordenbarer Zeitpunkt in der neueren Geschichte. Dass in den USA Menschen afrikanischer Abstammung auf offener Straße gehetzt und gelyncht wurden, kam mir ungeheuerlich vor. Gänsehaut.
In meinem jungen und naiven Verständnis war das etwas, das hier nicht (mehr) passieren konnte. Hier in Deutschland. Leute, die sich zusammenrotten und gegen Ausländer hetzten? Gewalt gegen Flüchtlinge und andere Migranten? Quatsch. Hallo, wir haben heutzutage, und da macht man so etwas nicht!
Wenn, dann passierte so etwas in den USA. Da trägt man ja auch Waffen und fährt Monster-Trucks. Oder in irgendwelchen kleinen Orten, wo alle sowieso durch den sich durch etliche Generationen ziehenden Inzest verrückt geworden sind. Einzelfälle. Aber unter normalen Leuten, so wie du und ich, also in großen Städten – da gibt es doch so etwas nicht!
Dachte ich.
(Süß, oder?)
Wehret den Anfängen?
Wir wir jetzt alle hier sitzen und entsetzt und geschockt die Zeitung lesen und Videos brennender Flüchtlingsheimen und von Naziaufmärschen ansehen. Wie wir uns wundern. Wie frustriert und erschrocken wir sind. Kaum eine Talkshow hat noch ein anderes Thema.
In meinem jugendlich-naiven Kopf dachte ich früher, dass die Zeit doch quasi stehenbleiben muss, wenn man solche Szenen sähe. Die Reichskristallnacht. Dass die Öffentlichkeit den Atem anhält. Dass das Ausland den Atem anhält. Dass alle aus die Pause-Taste drücken und inne halten und sagen: Okay, so geht das nicht. Das kann man doch nicht machen. Und dass dann jemand kommt (ja, wer eigentlich?) und das Ruder herum reißt. Diese Leute ins Gefängnis kommen, und zwar ALLE. Brandstifter. Die ganzen Mörder. Ohne Ausnahme und Ausreden. Am besten für immer. Oder raus aus Deutschland, ganz egal. Hauptsache: Weg!, wie auch immer sowas funktioniert, dachte ich mit 12. Wir haben ein Grundgesetz. Das wird es schon regeln.
Ich glaubte an unsere Zivilisation. ZI-VI-LI-SA-TION. Ein Mantra. Die Menschenrechte? Ein Heilsversprechen. Der Rettungsring in stürmischer See. Ein gottgleiches und selbstverständliches Konstrukt, das über uns allen schwebt. An wenige Dinge glaubte ich so sehr als daran, dass wir hier in Europa ALLES daran setzen würden, dass solches Grauen nie wieder passiert. Dass wir so weit und hoch entwickelt sind, dass es absurd ist, noch einmal in solch dunklen Zeiten zu verfallen. Nie wieder. Es kann nichts passieren. Niemand lässt das zu. Es würde jemand kommen. Es würde jemand kommen. Es würde jemand kommen.
Mein Gott, wie naiv ich war. Denn das ist natürlich Quatsch. Wer soll denn kommen? Und was jucken die Eltern, die sich mit jeweils 3 Jobs über Wasser halten, um die Kinder zu ernähren, irgendwelche Spiegel ONLINE-Artikel? Analysen? Orte, die nicht hier, sondern da sind? Können die das wirklich einordnen? Wollen die das überhaupt? Reflektieren die da stundenlang drüber oder denken die sich: Naja, die Polizei kümmert sich schon drum? Oder denken sie, dass die Leute da ja gar nicht so Unrecht haben, mit ihren "Protesten"?
Brennende Flüchtlingsheime im Osten? Das sind die anderen. Ein Nazi-Mob greift einen Bus voller Flüchtlinge an, die Polizei tut nichts. In der Pressekonferenz hinterher sagen sie, dass die Flüchtlinge ja auch irgendwie selbst Schuld seien. Und überhaupt habe da ein Junge dem Mob dann den Mittelfinger gezeigt – gegen ihn wird jetzt ermittelt. Das ist nicht 1933, das ist 2016. Und das ist auch nicht Indien oder sonst ein fernes Land, sondern Ostdeutschland. Genau genommen: Die Bundesrepublik Deutschland.
Brennende Flüchtlingsheime sind die anderen
Viele halten kurz den Atem an. Atmen dann aber wieder aus und müssen dann auch los, zur Arbeit. Der Alltag wartet nicht. Niemand interveniert. Nicht einmal die Polizei interveniert. Während sie linke Demonstranten bei jeder Gelegenheit wegknüppelt, wird bei Karl-Heinz, dem Kumpel aus dem Schützenverein und Ortsvorsteher der ansässigen beliebigen rassistischen Partei, schonmal ein Auge zugedrückt. Meint der doch gar nicht so, und sonst ist der doch auch ganz nett. Macht viel für die alten Leute. Und die Ausländer benehmen sich doch auch immer so komisch, oder? Sind so laut. Und so dreckig. Viel dreckiger als die Deutschen. Mensch. Aber die linken Zecken, die sind doch nur neidisch auf das, was ich mir erarbeitet habe! Die wollen mir das wegnehmen. Von meinem Geld leben. Wie die Ausländer.
Mit 15 oder 16 hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ein ganzes Land in den Horror stürzen kann. Von Rassismus überzogen wird. Jetzt weiß ich, dass da gar nichts überzogen wird. Dass der Rassismus von innen kommt. Dass er in den Deutschen zu schlummern scheint und auf den Dornröschenkuss wartet. Am Ende der Weimarer Republik küsste Hitler die Deutschen. Jetzt tun es AfD und Co. – Petry und Höcke spitzen ihre Münder, die NPD lässt ja seit Jahren nichts anbrennen und hat sogar schon das Kondom übergezogen, die CSU krault aber auch schonmal im Nacken herum (wer hätte das gedacht?). All I need is Populismus.
Aber nicht nur in Deutschland ist Rassismus schwer im Trend. Schauen wir nach Polen. Frankreich. Großbritannien. Dänemark. Schweden. Norwegen. Ungarn. etc. etc. etc. .... Was ist mit Europa eigentlich los? Wo ist dieses Europa, über das ich in der Schule so viel Gutes gelernt habe, und in das ich so viele Hoffnungen gesteckt habe? Das mich nachts ruhig schlafen ließ in dem Gefühl, beschützt zu werden?
Wusste ich damals nicht, wie eine Gesellschaft so dermaßen kippen und entgleisen kann, weiß ich es jetzt. Es ist eigentlich ganz einfach:
Genau so, wie jetzt. So beginnt es. So fängt es an.
Dass ich mal live dabei sein würde, hätte ich NIE gedacht. Niemals. Sind die denn nicht zur Schule gegangen, fragt man sich. Ist das kein böser Traum? Ist das ECHT, verdammte Scheiße?
Geschichte wiederholt sich nicht? Bitte. Geschichte wiederholt sich IMMER.
Und nein, wir sind nicht mehr bei irgendwelchen Anfängen. Wir sind schon mittendrin. Und es wäre wirklich wünschenswert, wenn die Politik und die Justiz, aber auch weite Teile der Gesellschaft, ENDLICH mal aufwachen würden. Deutschland hat ein Rassismus-Problem. Und das lässt sich auch nicht wegfuchteln, weil es einem peinlich ist, dass WIR es schon wieder sind. Dass wir voll dabei sind. Nach all dem. Nach damals. Fuck Mann, schon wieder wir. Nur sollten wir doch mittlerweile in der Lage sein, das zu erkennen und etwas dagegen zu tun – oder?
Eine kleine Anmerkung:
Nachdem der Artikel jetzt zehntausende Male gelesen und geteilt wurde und ich viele Nachrichten bekam, in denen Leute mir gestanden, dass sie total mutlos sind: Das müsst ihr nicht sein! Schaut euch um, wieviele Leute mit eurer Meinung übereinstimmen. Ihr sagt mir, dass ihr die Dinge ebenfalls so fühlt. Das ist doch was Gutes! Ihr seid nicht allein, wie ihr seht. Wir sind nicht allein. Also: Nicht verzagen, sondern Mund aufmachen. Sich klar positionieren und sagen: Ne, also ich sehe das nicht so, wie ihr von AfD & Co.
Mir macht das Mut. Ich hoffe, euch auch. :)
(Noch ein kleines PS, weil viele Kommentare so etwas andeuten: Ich bin nicht (mehr) jugendlich. Nicht, dass da Missverständnisse aufkommen. Ahoi!)
(PPS: Bitte nutzt diesen Blog-Eintrag nicht, um gegen Ostdeutsche zu hetzen. Das ist Unsinn und sowas entferne ich aus den Kommentaren. Man ist nicht automatisch Nazi, weil man ostdeutsch ist. Auch nicht, weil man deutsch ist. Danke.)

Felice Vagabonde
Hurra, Hurra, so nicht!
Illustratorin aus Hamburg | Politisch | Journalismuswelpe bei der Lügenpresse im Auftrag der BRD GmbH | schreibt Geschichten