Seit dem missglückten Putsch in der Türkei vom 15. und 16. Juli 2016, in dem Teile des Militärs versuchten, die amtierende Regierung – das heißt den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und die Regierung unter Ministerpräsident Binali Yıldırım – zu stürzen, gibt es fast jeden Tag schlechte Nachrichten aus diesem Land. Überraschend schnell war Erdogan mit einer Liste an Personen bei der Hand, die angeblich alle am Putsch beteiligt waren. Im ganzen Land werden sogenannte große "Säuberungsaktionen" durchgeführt. Ich wollte mir einfach mal eine Übersicht darüber verschaffen, was seitdem geschehen ist. Es sind nicht alle Ereignisse enthalten, ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit – es geht um einen groben Überblick. Spoiler: Mit Demokratie hat das alles nur noch wenig zu tun.
Putschversuch in der Türkei: Eine Chronik
16.07.
- Ca. 270 Menschen verlieren bei dem Putschversuch ihr Leben, fast 1 500 werden verletzt. Es kommt zu Lynchjustiz an Soldaten durch Anhänger Erdogans
- 2 745 Richter werden abgesetzt – fast ein Fünftel der ca. 15 000 amtierenden Richter
- 5 Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte in der Hauptstadt Ankara werden suspendiert
- Ca. 3 000 Putschisten aus Militärreihen werden festgenommen. Man sieht verstörende Fotos, auf denen sich die Inhaftierten ausziehen mussten und Verletzungen haben
- Erdogan macht Fethullah Gülen und seine Anhänger für den Putsch verantwortlich
17.07.
- Die Zahl der Festnahmen übersteigt die 6 000: Generäle, Richter, Staatsanwälte, Zivilisten, ...
- Erdogan gibt bekannt, die Todesstrafe wieder einzuführen zu wollen
Und nun können wir der Entstehung eines faschistischen Staates direkt nebenan zugucken. #turkey #Tuerkei pic.twitter.com/W4Jd62ksJJ
— Seeräuberbatman (@LaVieVagabonde) 18. Juli 2016
18.07.
- Die "Säuberungsaktionen" gehen weiter
- Die EU-Kommission wirft Erdogan vor, gegen die Rechtsstaatlichkeit zu verstoßen
- 8 777 Staatsbeamte des Innenministeriums werden entlassen. Es werden bald noch folgen: 1500 Angestellte des Finanzministeriums, 393 aus dem Ministerium für Familie und Soziales, 492 Mitarbeiter der obersten Instanz für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), 100 Geheimdienstmitarbeiter, 257 Mitarbeiter des Ministerpräsidenten
- 3 000 000 Beamte bekommen eine Urlaubssperre verordnet
Klar ist, dass Gerichtsverfahren künftig noch stärker politisiert sein dürften. "Urteile, die dem Präsidenten nicht gefallen, gab es bisher selten und wird es in Zukunft wohl gar nicht mehr geben", sagt der Staatsanwalt. "Neben der Presse- und Meinungsfreiheit ist auch die Gewaltenteilung faktisch aufgehoben. Was Recht ist und was nicht, bestimmt der Präsident. Gleichzeitig ist er Chef der Exekutive, denn er will ja die Verfassung ändern und Staats- und Regierungschef zugleich sein."Quelle: Spiegel Online
19.07.
- Ca. 15 200 Beamte des türkischen Bildungsministeriums werden suspendiert. Das bedeutet, dass mittlerweile 29 000 Beamte des öffentlichen Dienstes entlassen wurden. 1577 Dekane an den Univervitäten werden entlassen.
- Die Zahl der Festnahmen steigt auf fast 9 000
- 24 Radio- und Fernsehstationen verlieren ihre Sendelizenz
#Turkey:
— EFJ (@EFJEUROPE) 20. Juli 2016
- 20 news sites blocked
- 24 TV & radio licences cancelled
- 34 press cards revokedhttps://t.co/zm3Q9PEDga pic.twitter.com/Q9ecyDwQ3g
20.07.
- Wissenschaftler werden mit einem Ausreiseverbot belegt
- Der türkische Hochschulrat fordert die Mitarbeiter auf, KollegInnen zu denunzieren, die angeblich Verbindungen zur Gülen-Bewegung hätten
- Mittlerweile wurden insgesamt 50.000 Soldaten, Polizisten, Richter und Lehrer festgenommen oder suspendiert.
- 21 000 Privatschullehrer verlieren die Lehrberechtigung
- Erdogan verhängt 3 Monate Ausnahmezustand.
"Grundrechte wie die Versammlungs- und die Pressefreiheit können ausgesetzt oder eingeschränkt werden, Behörden können Ausgangssperren verhängen, und Medienberichterstattung kontrollieren oder verbieten."Quelle: Spiegel Online
- Was das alles noch beinhaltet, findet ihr hier.
21.07.
- Die europäische Menschenrechtskonvention wird teilweise ausgesetzt
22.07.
- Es wird bekannt, dass viele Soldaten nicht wussten, dass sie an einem Putsch teilnahmen
- Der 15. Juli soll "Tag der Demokratie" in der Türkei werden
23.07.
- Erdogan schließt 2000 Schulen und Wohltätigkeitsorganisationen
- 11 000 Reisepässe werden für ungültig erklärt
- Verdächtige können jetzt statt vier ganze 30 Tage ohne Anklage inhaftiert werden
- Die Festnahmen gehen weiter
24.07.
- Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet von Folter türkischer Gefangener
- Die Festnahmen steigen auf über 13 000 an – 6 000 Personen davon befinden sich in U-Haft
- 42 Journalisten werden inhaftiert
27.07.
- 47 Mitarbeiter der Zeitung "Zaman" werden verhaftet
- 1684 Offiziere sind unehrenhaft entlassen worden
- Mittlerweile sind 15 Universitäten komplett geschlossen
- Turkish Airlines entlässt fast 250 Mitarbeiter, Türk Telekom fast 200
- Mittlerweile haben schon 3000 Richter und Staatsanwälte ihre Jobs verloren
- Fast ein Dutzend Gewerkschaften werden geschlossen
- Dutzende Zeitungen und 16 Fernsehsender werden geschlossen
28.07.
- Erdogan "säubert" das Außenministerium: fast 100 Angestellte entlassen
- Mittlerweile sind fast 60 000 Personen durch Entlassungen und Festnahmen vom Putschversuch betroffen
- Die türkische Regierung fordert Auslieferungen aus Deutschland
"Kaum noch jemand im Land glaubt, dass es Erdogan bei den Massenentlassungen nur um die Verfolgung mutmaßlicher Putsch-Anhänger geht. Die Betroffenen verstehen die Botschaft klar und deutlich. Als die Polizei in Ankara in einer Wohnsiedlung anrückt, in der vor allem Richter und Staatsanwälte leben, muss wenig später die städtische Kanalreinigung ran. Verängstigte Juristen hatten so viele Dokumente in die Toiletten gespült, dass die Abflüsse im ganzen Block verstopft waren."
Quelle: Blendle/Tagesspiegel
29.07.
- Das Privatvermögen von circa 3 000 Juristen wird beschlagnahmt
- Mittlerweile sind fast 50 000 Pässe für ungültig erklärt worden
- Über 18 000 Menschen sitzen im Gefängnis wegen angeblicher Beteiligung am Putsch
- Die Klagen wegen Beleidigung möchte Erdogan zurückziehen – "als Zeichen guten Willens"
30.07.
- Es wird ein "Friedhof der Verräter" angelegt und anschließend wieder eingestampft
- Durch Verfassungsänderungen will Erdogan die Geheimdienste und die Militärstabschefs unter seine Kontrolle bringen
31.07.
- Weitere 1400 Soldaten werden unehrenhaft entlassen
- Erdogan kündigt an, die Militärakademien zu schließen
Die Sache mit der Presse...
Nazli Ilicak, 72 years old veteran of Turkish journalism. A staunch supporter of liberal democracy. Now under arrest pic.twitter.com/UYrVRAncOK
— Mahir Zeynalov (@MahirZeynalov) 29. Juli 2016
Bulent Mumay. A hard-working man, who made enemies among Erdogan's inner circle for top-notch journalism. Arrested. pic.twitter.com/h8UXFAsUoR
— Mahir Zeynalov (@MahirZeynalov) 29. Juli 2016
Bunyamin Koseli. We used to be roommates. An excellent mind, great investigative reporter. Jailed for doing his job. pic.twitter.com/xBBWDjxzDB
— Mahir Zeynalov (@MahirZeynalov) 29. Juli 2016
Arda Akin. Known for columns that deeply disturbed the government. Roared when necessary, without fear. Arrested. pic.twitter.com/k7qVvOxsE0
— Mahir Zeynalov (@MahirZeynalov) 29. Juli 2016
Busra Erdal. Veteran court reporter. Revered & reviled, made enemies because she never stopped writing. Arrested. pic.twitter.com/oEKAp9o1tO
— Mahir Zeynalov (@MahirZeynalov) 29. Juli 2016
Cemal Kalyoncu. He knew nothing in his life besides reporting and editing. Arrested because he did not bow to power. pic.twitter.com/QrCthaUF9Y
— Mahir Zeynalov (@MahirZeynalov) 29. Juli 2016
Ali Akkus. If Turkey has few excellent newsroom editors, he is among the top. Publisher of graft cases. Arrested. pic.twitter.com/uqUQAfFGv6
— Mahir Zeynalov (@MahirZeynalov) 29. Juli 2016
Diese Tweet-Reihe geht noch endlos weiter. Wir sitzen hier in unseren Sesseln und auf unseren Sofas vor Twitter und können live der Entstehung eines faschistischen Staates zuschauen, der Erschaffung einer neuen Diktatur – fast nebenan, ein Nato-Partner.
Sind wir jetzt endlich soweit, die Türkei als autokratisches Regime zu bezeichnen oder tun wir noch ein bisschen so, als ob?
— Seeräuberbatman (@LaVieVagabonde) 21. Juli 2016
Die Türkei ein Rechtsstaat?
Das war einmal.
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Jasmin Schreiber
Hurra, Hurra, so nicht!
Freie Journalistin bei der Lügenpresse | Politisch | ist auch noch Illustratorin | war mal Biologin | hat so'n Batman-Ding am Laufen
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